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1
Ich war gerade mit meiner Mutter auf dem Heimweg von der Schule. Sie hatte mich an die Hand genommen, und in der anderen hielt ich meinen Truthahn, den wir Erstklässler in der Woche vor Thanksgiving angefertigt hatten. Ich war stolz wie Oskar. Wir machten das folgendermaßen: Man legte eine Hand auf ein Blatt Tonpapier und umfuhr sie mit einem Wachsmalstift. So entstanden der Schwanz und der Rumpf. Was den Kopf anging, war man auf sich selbst gestellt.
Als ich Mama meinen Truthahn zeigte, sagte sie ja, ja, ja, genau, genau, genau, total super, aber ich glaube nicht, dass sie ihn sich richtig angesehen hat. Wahrscheinlich dachte sie stattdessen an eines der Bücher, die sie verkaufen wollte. »Das Produkt an den Mann bringen«, wie sie es nannte. Mama war nämlich Literaturagentin. Früher hat das ihr Bruder gemacht, mein Onkel Harry, aber ein Jahr vor der Zeit, von der ich hier erzähle, hatte Mama seine Agentur übernommen. Das ist eine lange, ziemlich traurige Geschichte.
»Ich hab Dunkelgrün genommen, weil das meine Lieblingsfarbe ist«, sagte ich. »Das weißt du doch, oder?« Inzwischen waren wir fast da. Unsere Wohnung lag nur drei Straßen von meiner Schule entfernt.
Ja, ja, ja, hat Mama gesagt. Außerdem: »Wenn wir zu Hause sind, spielst du was oder schaust dir Barney und den Zauberschulbus an, Kleiner. Ich muss massenhaft Anrufe erledigen.«
Worauf ich ja, ja, ja von mir gegeben habe, was mir einen Knuff in die Seite und ein Grinsen einbrachte. Ich fand es immer toll, wenn ich meine Mutter zum Grinsen bringen konnte. Schon mit sechs wusste ich nämlich, dass sie das Leben äußerst ernst nahm. Später stellte ich fest, dass das teilweise an mir lag. Sie ging irgendwie davon aus, dass sie ein ziemlich gestörtes Kind aufziehen würde. Der Tag, von dem ich gerade erzähle, war jedenfalls der, wo sie definitiv zu dem Schluss kam, dass ich doch nicht gestört war. Was für sie einerseits eine Erleichterung und andererseits keine gewesen sein muss.
»Du sprichst mit keinem darüber, ja?«, sagte sie später an jenem Tag zu mir. »Außer mit mir. Und vielleicht nicht mal mit mir, Kleiner. Okay?«
Ich sagte okay. Wenn man klein ist und es sich um die eigene Mama handelt, sagt man zu allem okay. Außer natürlich, sie erklärt einem, dass es Zeit fürs Bett ist. Oder sie befiehlt, bloß ja den ganzen Brokkoli aufzuessen.
Als wir zu Hause ankamen, war der Aufzug immer noch kaputt. Theoretisch könnte man sagen, das Ganze wäre vielleicht anders gelaufen, wenn das Ding funktioniert hätte, aber das glaube ich nicht. Leute, die behaupten, im Leben gehe es nur um die Entscheidungen, die wir treffen, und um die Wege, die wir wählen, haben meiner Meinung nach keinen blassen Schimmer. Egal ob Treppe oder Aufzug, wir wären in jedem Fall im zweiten Stock gelandet. Wenn der flatterhafte Finger des Schicksals auf einen zeigt, führen alle Wege zum selben Ort, meiner Meinung nach jedenfalls. Eventuell werde ich meine Meinung ändern, wenn ich älter bin, aber das glaube ich eigentlich nicht.
»Was für ein Scheißaufzug«, sagte Mama. Und dann: »Das hast du nicht gehört, Kleiner.«
»Was denn?«, sagte ich, was mir ein weiteres Grinsen einbrachte. Es sollte das letzte an jenem Nachmittag sein, so viel kann ich verraten. Ich fragte, ob ich ihre Tasche tragen solle, in der wie immer ein Manuskript steckte. An jenem Tag war es ein dickes, das nach circa fünfhundert Seiten aussah (wenn das Wetter gut war, saß Mama immer auf einer Bank und las, während sie darauf wartete, dass ich aus der Schule kam). »Lieb von dir«, sagte sie. »Aber was erkläre ich dir immer?«
»Jeder muss im Leben seine eigene Last tragen«, sagte ich.
»Haargenau.«
»Ist es von Regis Thomas?«, fragte ich.
»Richtig geraten. Von dem guten alten Regis, der unsere Miete bezahlt.«
»Geht es um Roanoke?«
»Musst du das wirklich fragen, Jamie?« Was mich zum Kichern brachte. Alles, was der gute alte Regis schrieb, spielte in Roanoke. Das war die Last, die er im Leben trug.
Wir stiegen die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo sich außer unserer noch zwei weitere Wohnungen befanden. Unsere hinten im Flur war die schickste. Vor der Tür von 3A standen Mr. und Mrs. Burkett, und mir war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Mr. Burkett rauchte eine Zigarette, was ich bei ihm noch nie gesehen hatte und was in unserem Haus außerdem verboten war. Seine Augen waren blutunterlaufen, und die Haare standen ihm in wirren grauen Büscheln vom Kopf ab. Ich sagte immer Mister zu ihm, aber eigentlich war er Professor Burkett und lehrte an der New York University irgendetwas Kluges. Englische und europäische Dichtung, wie ich später erfuhr. Mrs. Burkett stand barfuß nur im Nachthemd da. Das Nachthemd war ziemlich dünn. Ich konnte durch es hindurch fast alles von ihr sehen.
»Was ist denn passiert, Marty?«, fragte meine Mutter.
Bevor er etwas erwidern konnte, zeigte ich ihm meinen Truthahn. Weil Mr. Burkett traurig wirkte und ich ihn aufmuntern wollte, aber auch weil ich so stolz darauf war. »Schauen Sie mal, Mr. Burkett! Ich hab einen Truthahn gemalt! Schauen Sie mal, Mrs. Burkett!« Beim Hinhalten hob ich ihn vors Gesicht, weil sie nicht denken sollte, dass ich auf ihren Busen glotzte.
Mr. Burkett achtete nicht auf mich. Ich glaube, er hatte mich nicht mal gehört. »Tia, ich habe eine schreckliche Nachricht. Heute Morgen ist Mona gestorben.«
Meine Mutter ließ die Tasche mit dem Manuskript zwischen ihre Füße fallen und schlug sich die Hand vor den Mund. »O nein! Das ist nicht wahr!«
Er brach in Tränen aus. »Sie ist nachts aufgestanden und hat gesagt, sie will ein Glas Wasser trinken. Ich bin wieder eingeschlafen, und heute Morgen lag sie auf dem Sofa und hatte eine Steppdecke bis zum Kinn gezogen. Da bin ich auf Zehenspitzen in die Küche gegangen und hab Kaffee aufgesetzt, weil ich dachte, der Duft würde sie auf-auf-w-w-w… würde sie aufwecken …«
Dann brach er wirklich zusammen. Mama nahm ihn in die Arme, wie sie es mit mir tat, wenn ich mir wehgetan hatte, obwohl Mr. Burkett ungefähr hundert Jahre alt war (vierundsiebzig, wie ich später erfuhr).
Und da sagte Mrs. Burkett etwas zu mir. Sie war schwer zu verstehen, wenn auch nicht so schwer wie manche anderen, weil sie noch ziemlich frisch war. »Truthähne sind nicht grün, James«, sagte sie.
»Meiner schon«, sagte ich.
Meine Mutter hielt Mr. Burkett immer noch in den Armen und wiegte ihn irgendwie hin und her. Die beiden hörten Mrs. Burkett nicht, und mich hörten sie auch nicht, weil sie erwachsene Dinge taten: Mama spendete Trost, Mr. Burkett heulte.
»Ich hab Doktor Allen angerufen«, sagte Mr. Burkett. »Als er dann da war, meinte er, dass sie wahrscheinlich einen Schlag hatte.« Wenigstens glaube ich, dass er das gesagt hat. Er weinte so sehr, dass er nicht gut zu verstehen war. »Er hat für mich beim Bestattungsinstitut angerufen. Die haben sie weggebracht. Ich weiß gar nicht, was ich ohne sie tun soll.«
Mrs. Burkett sagte: »Wenn mein Mann nicht aufpasst, wird er deiner Mutter mit seiner Zigarette noch das Haar versengen.«
Was er tatsächlich tat. Ich konnte die schmorenden Haare riechen, ein Gestank wie beim Damenfriseur. Mama war zu höflich, etwas zu sagen, aber sie sorgte dafür, dass er sie losließ, und dann nahm sie ihm die Zigarette ab, warf sie auf den Boden und trat darauf. Das fand ich richtig eklig, eine echte Schweinerei, aber ich hielt den Mund. Ich kapierte, dass es sich um eine besondere Situation handelte.
Außerdem kapierte ich, dass er durchdrehen würde, wenn ich weiter mit Mrs. Burkett sprach. Mama ebenfalls. Selbst ein kleiner Junge weiß gewisse grundlegende Dinge, wenn er nicht weich in der Birne ist. Man sagt bitte, man sagt danke, man wedelt in der Öffentlichkeit nicht mit dem Schniedel herum, man kaut nicht mit offenem Mund, und man spricht nicht mit toten Leuten, wenn sie neben lebenden Leuten stehen, die gerade erst anfangen, sie zu vermissen. Zu meiner Verteidigung will ich nur sagen: Beim ersten Anblick war mir noch nicht bewusst gewesen, dass sie tot war. Später wurde ich besser darin, den Unterschied zu beurteilen, aber damals musste ich das erst noch lernen. Durch das Nachthemd von Mrs. Burkett konnte ich hindurchschauen, durch sie selbst nicht. Tote sehen genauso aus wie Lebende, nur dass sie immer die Kleidung wie beim Sterben tragen.
Währenddessen kaute Mr. Burkett die ganze Sache noch einmal durch. Er erzählte meiner Mutter, wie er neben dem Sofa auf dem Boden gesessen und die Hand seiner Frau gehalten hatte, bis der Arzt kam, und dann wieder, bis die Leute vom Bestattungsinstitut gekommen waren, um sie wegzuschaffen. Eigentlich sagte er: »Um sie von dannen zu bringen«, was ich nicht verstand, bis Mama es mir erklärte. Das Weinen hatte zwischendurch nachgelassen, nahm jetzt jedoch wieder Fahrt auf. »Ihre Ringe sind weg«, sagte er unter Tränen. »Nicht nur ihr Hochzeitsring, sondern auch der Verlobungsring mit dem großen Diamanten. Ich hab auf dem Nachttisch auf ihrer Bettseite nachgeschaut, wo sie die Dinger immer hinlegt, wenn sie sich die Hände mit der scheußlich riechenden Arthritissalbe einreibt …«
»Die riecht tatsächlich erbärmlich«, bestätigte Mrs. Burkett. »Das Lanolin da drin ist im Grunde nur Schaffett, aber irgendwie hilft’s.«
Ich nickte, um auszudrücken, dass ich verstanden hätte, sagte aber nichts.
»… und auf dem Waschbecken im Bad, weil sie die Ringe manchmal da liegen lässt … Überall hab ich nachgeschaut.«
»Die werden schon wieder auftauchen«, sagte meine Mutter besänftigend, und da ihre Haare jetzt nicht mehr gefährdet waren, nahm sie Mr. Burkett wieder in die Arme. »Sie tauchen bestimmt wieder auf, Marty, mach dir darüber keine Sorgen.«
»Ich vermisse sie so sehr! Ich vermisse sie jetzt schon!«
Mrs. Burkett wedelte mit der Hand vor dem Gesicht. »Wahrscheinlich dauert es nicht mal sechs Wochen, bis er Dolores Magowan zum Mittagessen ausführt.«
Mr. Burkett flennte, und meine Mutter tröstete ihn, so wie sie mich tröstete, wenn ich mir mal das Knie aufschürfte oder wie damals, als ich ihr eine Tasse Tee machen wollte und mir heißes Wasser auf die Hand geschwappt ist. Es herrschte also irgendwie ein ziemlich hoher Lärmpegel, weshalb ich es riskierte, wenn auch nur mit leiser Stimme.
»Wo sind Ihre Ringe denn, Mrs. Burkett? Wissen Sie das?«
Wenn sie tot sind, müssen sie die Wahrheit sagen. Im Alter von sechs Jahren wusste ich das allerdings noch nicht; ich nahm einfach an, dass alle Erwachsenen, ob nun lebendig oder tot, stets die Wahrheit sagten. Natürlich glaubte ich damals auch, Goldlöckchen wäre ein echtes Mädchen. Man darf mich gern als dämlich bezeichnen, aber immerhin glaubte ich wenigstens nicht, dass die drei Bären auch wirklich sprechen konnten.
»Im obersten Fach vom Flurschrank«, sagte sie. »Ganz hinten, hinter den Fotoalben.«
»Warum da?«, fragte ich, worauf meine Mutter mir einen seltsamen Blick zuwarf. Soweit sie sehen konnte, unterhielt ich mich mit dem leeren Wohnungseingang … obwohl sie eigentlich längst wusste, dass ich ein bisschen anders als andere Kinder tickte. Nach einem nicht gerade schönen Vorfall im Central Park – dazu bald mehr – bekam ich mit, wie sie einer von ihren Verlagsfreundinnen am Telefon erzählte, ich hätte eine besondere Beziehung zur Geisterwelt. Was mir einen gewaltigen Schrecken einjagte. Geister setzte ich nämlich mit Gespenstern gleich, und vor denen hatte ich furchtbare Angst.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Mrs. Burkett. »Aber da hatte ich wahrscheinlich schon den Schlaganfall. Das heißt, meine Gedanken sind in Blut ertrunken.«
In Blut ertrunkene Gedanken. Das habe ich nie vergessen.
Mama fragte Mr. Burkett, ob er mit in unsere Wohnung kommen wolle, zu einer Tasse Tee (»oder etwas Stärkerem«), aber er lehnte ab, weil er noch einmal nach den verschwundenen Ringen seiner Frau suchen wollte. Daraufhin fragte sie ihn, ob wir ihm was vom Chinesen mitbringen sollten, wenn wir dort unser Abendessen holten, und er sagte: »Das wäre schön, vielen Dank, Tia.«
»De nada«, sagte meine Mutter (das verwendete sie beinah so oft wie ja, ja, ja und genau, genau, genau), und dann erklärte sie ihm, wir würden ihm das Essen gegen sechs in die Wohnung bringen, falls er nicht bei uns essen wolle, wozu er gern eingeladen sei. Nein, sagte er, er würde lieber bei sich essen, aber er fände es nett, wenn wir uns dann zu ihm gesellen würden. Nur dass er zu uns sagte, als wäre Mrs. Burkett noch am Leben. Was sie ja nicht war, obwohl sie dastand.
»Bis dahin hast du die Ringe bestimmt gefunden«, sagte Mama. Sie nahm mich an die Hand. »Komm, Jamie. Wir besuchen Mr. Burkett später wieder. Jetzt lassen wir ihn erst mal lieber für sich allein.«
»Truthähne sind nicht grün, Jamie«, sagte Mrs. Burkett. »Und das da sieht sowieso nicht wie ein Truthahn aus. Das sieht aus wie ein Klecks, aus dem Finger ragen. Ein Rembrandt bist du nicht gerade.«
Tote Leute mussten die Wahrheit sagen, was okay war, solange man die Antwort auf eine Frage erfahren wollte, aber wie schon gesagt, die Wahrheit war halt manchmal echt beschissen. Weshalb ich irgendwie wütend auf Mrs. Burkett wurde, wenn auch nur kurz, weil sie auf einmal zu weinen anfing. Sie wandte sich Mr. Burkett zu und sagte: »Wer wird jetzt dafür sorgen, dass du die Gürtelschlaufe hinten an deiner Hose nicht vergisst? Dolores Magowan? Da fress ich doch ’nen Besen!« Sie küsste seine Wange … oder küsste in deren Richtung, das war mir nicht ganz klar. »Ich habe dich geliebt, Marty. Das tu ich immer noch.«
Mr. Burkett hob die Hand und kratzte sich an der Stelle, wo ihre Lippen ihn berührt hatten, als würde es ihn da jucken. Das hat er wohl jedenfalls gedacht.